Fragen über Fragen
schwirren rund um Peter Iljitsch Tschaikowskys letzte Symphonie.
„Es geht etwas Merkwürdiges, Unbegreifliches in mir vor“, so der Komponist, 50jährig, und drei Jahre später: „ich möchte eine ganz neue Sinfonie schreiben – » Das Leben«, diesmal mit einem Programm von der Art, dass es für alle ein Rätsel bleiben wird.“ Sie wird dann zwar anders heißen, aber „es ist das ehrlichste von allen meinen Werken“.
Und trotzdem: ein geheimnisvolles Programm.
Ein sinfonisches Requiem? – „angesichts der Ungewissheit, was denn das Streben und Trachten dieser Welt gelte“. Die Sinfonie entsteht in kürzester Zeit zwischen 4. Februar und 12. August 1893, am 16. Oktober ist die Uraufführung, 9 Tage später ist Tschaikowsky tot – .
Die Todesursache ist nach wie vor ungewiss: brachte ein Glas kaltes Wasser die Cholera, unvorsichtigerweise oder im Vabanque-Spiel herbeigeführt, dem Tod der Mutter folgend, oder, wie neueste Forschungen belegen wollen, zwang ein Ehrengericht Tschaikowsky zum Selbstmord infolge seiner homosexuellen Beziehung zu einem Verwandten des Zaren?
Wenn man die Einsamkeit des Beginns des 1. Satzes hört, kann man nur schwer an einen Unfall glauben, meint Dirigent Michael Lessky.
Wie ein Hauch taucht alles gespenstisch auf: die Verzweiflung über den frühen Tod der geliebten Mutter, die kurze Ehe mit Antonina, das Ende mit Schrecken. Und dann: die erste Liebe zur Sängerin Désirée Artôt, und jetzt zum Neffen Bob, Sohn der geliebten Schwester Sascha und Widmungsträger des Werks. Doch hart fährt das widrige Schicksal drein, wie in fast allen seinen Werken, und droht die Liebe zu unterdrücken. „Mit den Heiligen lass ruhen, Christus, die Seelen deiner Diener“ aus der Liturgie erklingt der ersehnte Hilferuf. Tröstlich ist das Ende – ?
Wo sind die schönen Erinnerungen an die vielen Gesellschaften, an den Glanz St. Petersburgs, Paris, Londons? – „Der Tod, der uns durch Schönheit bezwingt und tiefe, trunkene Ruhe verheißt“ kommt vielleicht mit einem Walzer, con grazia – so bereits in einer der Romanzen op. 57. Und ja, Johann Strauß war es, der ihn seinerzeit als Komponisten in Russland (!) eingeführt hatte, indem er eine Komposition von Tschaikowsky in seine Programme aufnahm.
Noch einmal Eintauchen ins Leben – schattenhaft taucht es auf: die Hilfe in letzter Minute durch die „geliebte Freundin“ Nadeshda, die er trotz 1200 Briefen nie kennengelernt hatte, der jähe Abbruch der Beziehung durch sie. Eine gespenstische Tarantella tanzen seine Gedanken im Kopf, los, er muss nochmal fort, geschwind und leggieramente, die jüngsten Erfolge feiern: New York, Philadelphia, Brüssel, Odessa, Moskau – wie eine Lokomotive rast das Leben dahin, „wie kurz ist doch das Leben!“ steht im Tagebuch, sempre fortissimo, wie eine Lokomotive kurz vor dem Absturz, weil über dem herannahenden Abgrund keine Brücke mehr existiert.
Wie Allegorien gleiten wir hinüber, langsam, feierlich, würdevoll schreitend – aber wer tanzte mit ihm den Abschiedswalzer con sentimento?
Vielleicht einer der neun Musen?
Was sagt uns die Musik des ehrlichsten von allen seinen Werken? Sie lässt einen Menschen erkennen, der stets nach Idealen strebte, von der Wirklichkeit hart getroffen wurde, und in dem „die Leidenschaft mit unvorstellbarer Stärke getobt hat“.
